Vorschlag für das Unwort des Jahres 2012: „Opferindustrie“

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Wir haben heute, am 28.12.2012, mit dem folgenden Text das Wort „Opferindustrie“ als Unwort des Jahres 2012 vorgeschlagen. Mitte Januar wird das Unwort des Jahres 2012 von der Jury auf einer Pressekonferenz der TU Darmstadt verkündet. Bis dahin seid Ihr herzlich eingeladen, diesen Brief mit zu unterzeichnen, Organisationen ebenso wie Einzelpersonen!

Zum Unterzeichnen bitte das Kommentarformular unten verwenden Die Unterschriftensammlung erfolgt noch auf unserer alten Webpräsenz: Dort den Namen und/oder Organisation eintragen und abschicken. Wer möchte, kann außerdem im Kommentarfeld noch eigene Gedanken zum Begriff „Opferindustrie“ mitteilen. Alternativ: eine Email an uns schicken mit den Angaben, die wir unter den Brief setzen sollen.


Sehr geehrter Professor Wengeler, sehr geehrte Jury,

anlässlich des Interviews, das Miriam und Jörg Kachelmann dieses Jahr im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL gaben, möchten wir das Wort „Opferindustrie“ als Unwort des Jahres 2012 vorschlagen.

Miriam Kachelmann, die diese Äußerung tätigte, bezieht sich damit auf institutionelle Hilfs- und Beratungseinrichtungen für Betroffene von sexueller Gewalt, und unterstellt diesen eine negative gesellschaftliche Wirkung:

Es gibt eine Opferindustrie, die in dieser kranken Form endlich weg muss.

Entgegen den faktisch unzureichenden Hilfsmaßnahmen bei Sexualstraftaten kreiert Miriam Kachelmann damit das Trugbild, Hilfseinrichtungen seien für die Gesellschaft kontraproduktiv. Schon längst nicht mehr zum gerichtlichen Einzelfall Jörg Kachelmanns Stellung beziehend, verbreiten und etablieren sie und ihr Mann eine Universalanschauung, in der die Frauen ein „Opfer-Abo“ hätten („Frauen sind immer Opfer, selbst wenn sie Täterinnen wurden“) oder dass
„Falschbeschuldigungen ein Massenphänomen geworden“ seien (beide Äußerungen von Jörg Kachelmann).

Auf diese verallgemeinernde Weise wird ein Klima des Misstrauens geschaffen, das Betroffenen von sexueller Gewalt den Zugang zu den nur spärlich vorhandenen Hilfsangeboten, menschlicher und justizieller Gerechtigkeit noch weiter erschwert und negative Stereotype bekräftigt. Traditionelle Sichtweisen, die sexuelle Gewalt verharmlosen und den Betroffenen eine Mitschuld an der Tat unterstellen, sind leider immer noch weit verbreitet. Wie fatal sich diese Täter-Opfer-Schuldumkehr auswirkt, zeigt sich an dem weit verbreiteten Phänomen, dass sich anstelle der Täter die Betroffenen für das ihnen Angetane schämen.

Diverse Studien (Bundesministerium für Familie, Senioren, Jugend und Frauen, 2004, London Metropolitan University, 2009) bestätigen, dass die geringe Anzeigequote bei Sexualstraftaten auch durch die Zweifel der Betroffenen bedingt ist, ihnen werde vermutlich nicht geglaubt werden. Diese Furcht ist nicht nur angesichts der außerordentlich geringen Verurteilungsquote (13% der angezeigten Fälle) begründet, sondern auch durch den gesellschaftlichen Umgang. Dieser manifestiert sich nicht nur in der unkritischen Veröffentlichung des oben erwähnten Interviews, sondern auch in sonstigen Medien (wie z. B. in der Talk-Sendung „Günther Jauch“ am 14.10.2012), die solchen Aussagen wie denen des Ehepaars Kachelmann unhinterfragt eine Plattform bieten.

Auch entscheidungsgebende Instanzen sind nicht frei von einer verharmlosenden Sichtweise auf sexuelle Gewalt, sodass sich auch politisch der „Teufelskreis“ fortsetzt:

Dem Thema wird so wenig Relevanz zugesprochen, dass bestehende Hilfseinrichtungen keine ausreichenden Mittel erhalten, sodass von einer flächendeckend ausreichenden Versorgung keine Rede sein kann. Stattdessen mussten im Jahr 2012 Frauenhäuser 9000 Frauen, die aus einer Notlage flüchteten, aufgrund von Überfüllung abweisen. Aufklärungsprojekte, die zur Prävention von (sexueller) Gewalt beitragen könnten, sind nicht einmal geplant.

Auch bei Polizei und Justiz sind Vergewaltigungsmythen wie die der rachsüchtigen Falschbeschuldigerin weit verbreitet:

In einer Befragung zur subjektiven Einschätzung der Anzahl von Falschbeschuldigungen bei Sexualdelikten vermuteten Polizeibedienstete eine Rate von 50-60%. Demgegenüber steht die tatsächlich ermittelte Falschbeschuldigungsrate von ca. 3%. Dass eine solche Einstellung seitens der ermittelnden BeamtInnen Auswirkungen auf den Verlauf des Strafverfahrens hat – und in der Begegnung mit den Betroffenen auch auf diese selbst -, lässt sich leicht ausmalen. Auch hierin ist mit eine Ursache für die oben genannte unterdurchschnittlich geringe Verurteilungsrate zu finden.

Jörg und Miriam Kachelmanns Behauptungen und ihre inflationäre Verbreitung sind diskriminierend und gefährlich gegenüber den Betroffenen. Ihnen wird damit gezeigt, dass ihr Leiden gesellschaftlich ohne Belang ist und dementsprechend wenig Aussicht auf gerechte Behandlung hat. Darüber hinaus schaden solche Aussagen den Betroffenen und der Gesellschaft insofern, als dass Vergewaltigungsmythen bekräftigt und perpetuiert werden.

Die Wortschöpfung „Opferindustrie“ enthält zusätzlich den Vorwurf, Betroffene würden ihr Leid auf Kosten der Gemeinschaft instrumentalisieren und diese damit schädigen.

Herr und Frau Kachelmann sind weit über die Grenzen der freien Meinungsäußerung hinaus gegangen, in dem sie zwecks eigener Interessen eine PR-Maschinerie in Gang gesetzt haben – zulasten der allgegenwärtig und zukünftig Betroffenen.

In diesem Sinne hoffen wir, dass die Jury mit ihrer Wahl zum „Unwort des Jahres“ ein Licht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse wirft, die so viele Betroffene von sexueller Gewalt zum Schweigen bringen und für die Miriam und Jörg Kachelmann nur einen besonders drastischen Ausdruck gefunden haben. Dies wäre ein Signal für ein gesellschaftliches Umdenken, bei dem Hilfe und Gerechtigkeit für Betroffene sowie Prävention von sexueller Gewalt ein höheres Gewicht erhalten als es derzeit der Fall ist.

Wir bedanken uns für Ihre Aufmerksamkeit und verbleiben

mit freundlichen Grüßen

Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt

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