Der BGH, in dessen Strafkammern fast ausschließlich Männer tätig sind, beweist in Äußerungen immer wieder, dass sexuelle Unversehrtheit von Frauen für ihn keinen besonders hohen Wert hat, und dass diejenigen, die dort über Sexualstraftaten urteilen sollen, tief in – täterschützenden – Vergewaltigungsmythen verhaftet sind. So findet der BGH im Jahre 2009, dass keine Vergewaltigung vorliegt, wenn eine Frau zuvor einvernehmlich Zärtlichkeiten mit dem Täter eingeht, „bevor sie sich ihm verweigerte“. Ab einem bestimmten Zeitpunkt ist es in diesem Rechtssystem also vorbei mit der vollen sexuellen Selbstbestimmung: eine aktiv durch das BGH bestätigte Tätersicht.
In dieser Weise hat der BGH auch die Reform des §177 durch Rechtsauslegungen rückgängig gemacht , was vor allem die Anwendung der „Ausnutzung einer schutzlosen Lage“ betrifft. Und an diesen Rechtsauslegungen orientieren sich die Gerichte, damit ihre Urteile im Falle einer Revision auch vor dem BGH Bestand haben. Dieser Umstand mündete im vergangenen September in einem der vielen traurigen Höhepunkte: der Freispruch eines wegen Vergewaltigung Angeklagten, der vor Gericht freimütig zugegeben hatte, dass er die Weigerung der Nebenklägerin mitbekommen hatte.
Dieser Fall eines geständigen und freigesprochenen Vergewaltigers veranlasste das Kofra und die assoziierte Gruppe Frauen aktiv gegen sexuelle Gewalt aus München, ein Zeichen gegen dieses Unrecht zu setzen. Sie initiierten eine Unterschriftensammlung, in der der BGH unter anderem zu einer angemessenen Auslegung der „Ausnutzung einer schutzlosen Lage“ aufgefordert wird. Über 2.500 Unterschriften wurden von mehreren Organisationen, darunter auch der unsrigen, in Papierform gesammelt und von den Initiatorinnen mit einem Offenen Brief an den BGH geschickt. Nutzen wir die digitalen Möglichkeiten, um diesen Brief zu verbreiten, und den Druck auf das BGH zu erhöhen!
Hier ist der Offene Brief der Kofra – Gruppe zu lesen:
Offener Brief an den Bundesgerichtshof wegen der opferfeindlichen Rechtsprechung zu Vergewaltigungsdelikten ausgehend vom Freispruch des Angeklagten im „Fall Chantal“ Die Gruppe „Frauen aktiv gegen sexuelle Gewalt“ im Frauenprojekt KOFRA überreicht dem BGH Listen mit ca. 2500 Unterschriften, dem Projekt übersandt von ca. 130 Organisationen. Der BGH ist für diesen Freispruch nicht unmittelbar verantwortlich, jedoch richtet sich dieser offene Brief dennoch an ihn, weil ihm eine wegweisende Rolle für die Auslegung der bestehenden Gesetze und damit der Rechtsprechung zukommt. Die Sexualstrafrechtsreform von 1997/98 hatte das Ziel, die rechtliche Lage vergewaltigter Frauen zu verbessern. Die Strafvorschrift des § 177 Abs. I Nr. 3 StGB sollte auch die Fälle erfassen, in denen das Opfer „starr vor Schrecken“ oder aus Angst vor der Anwendung von Gewalt durch den Täter dessen sexuelle Handlungen über sich ergehen lässt, ohne dass direkte Gewalt ausgeübt oder Drohungen ausgesprochen werden. Dieser wichtige Erfolg im Kampf gegen Vergewaltigung hat jedoch nicht zu einer höheren Verurteilungsrate der Beschuldigten geführt, sondern im Gegenteil nahm diese sogar ab trotz zugenommener Anzeigen (vgl. Seith/Lovett/Kelly: Unterschiedliche Systeme, ähnliche Resultate? Strafverfolgung von Vergewaltigung in elf europäischen Ländern, 2009). Konkret im Fall Chantal kann die Beeinflussung der Rechtsprechung durch den BGH nachverfolgt werden durch dessen vorhergehende Zurückweisung der Verurteilung eines Angeklagten durch das Landgericht Essen. Im März 2012 hatte der BGH (Beschluss vom 20. März 2012, Az. 4 StR 561/11, via hrr-strafrecht.de) eine anderslautende Entscheidung in einem vergleichbaren Fall aufgehoben und zur Neuverhandlung nach Essen zurückgeschickt, Begründung: Das Landgericht habe unzureichend die Fluchtmöglichkeiten des Opfers– einer Ehefrau– oder die Chancen lauten Schreiens geprüft und deswegen den– notorisch gewalttätigen– Ehemann zu Unrecht verurteilt. Es war unvorstellbar, dass das Landgericht Essen nur kurze Zeit später von einer so klaren Vorgabe des deutschen Höchstgerichts für Strafsachen abweichen würde. |