In den letzten Tagen hat sich Hurrikan-artig eine Diskussion um Mithu Sanyals Vorschlag, „Erlebende“ als neues Wort für Betroffene von sexueller Gewalt einzuführen, den Widerstand dagegen in Form eines Offenen Briefes der Störenfriedas und die Hetze gegen sie durch eine rechte, hoch frequentierte Facebook-Seite hochgeschraubt.
Einige von unserer Initiative haben den Brief der Störenfriedas unterzeichnet, und wir stehen weiterhin voll hinter seiner Aussage.
Bis vor Kurzem von Kritik meist unbehelligt, hat Mithu Sanyal, die im vergangenen Jahr ein Buch zum Thema Vergewaltigung veröffentlichte, seither ihre Thesen in der Öffentlichkeit verbreitet. Das Unbehagen unter Menschen, die selbst von sexueller Gewalt betroffen waren und/oder sich dagegen einsetzen, wuchs jedoch mit jedem Interview, mit jedem Artikel von ihr an. Denn was sie äußert, hat kaum etwas mit einer Herausforderung der gesellschaftlichen Zustände zu tun, die die sexuelle Gewalt hervorbringen und rechtfertigen. Was die Debatte braucht, ist ein Verständnis davon, wie sehr und in welcher Weise die patriarchalen Strukturen untergründig weiterwirken: in der Höherbewertung der männlichen Perspektive, in der allgegenwärtigen symbolischen und tatsächlichen Verdinglichung von Frauen und Mädchen, in einem Verständnis von Sexualität, das um männliche Wünsche kreist.
Das alles sind Grundlagen für die weite Verbreitung von sexueller Gewalt und dafür, dass sie gesellschaftlich hingenommen oder sogar verteidigt wird. Um sie zu überwinden, ist ein Perspektivwechsel nötig, der die Gesellschaft therapiert wie TherapeutInnen Täter therapieren: den Fokus der Empathie auf (potentielle) Opfern zu legen, welche in überwiegender Zahl Frauen und Mädchen sind, bedeutet auf gesellschaftlicher Ebene, Mädchen und Frauen ernst zu nehmen und statt ihnen die Rolle des Sexobjekts zuzuweisen, sie endlich als vollgültige Persönlichkeiten anzuerkennen und wertzuschätzen. Doch von einem solchen Perspektivwechsel ist bei Sanyal nicht die Rede. Stattdessen beschäftigt sie sich ausgiebig mit der Perspektive von Männern, fühlt sich in sie ein, wirbt um Verständnis für sie und beklagt Empathielosigkeit gegenüber Tätern. Erster Unmut über andere kritische Punkte brach sich Ende Dezember in einem Artikel bei den Störenfriedas Bahn, in dem u.a. ihre Neigung kritisiert wurde, als Stereotyp abzutun, was bittere Realität ist: die eindeutige geschlechtliche Verteilung, was Täter und Betroffene betrifft. Damit verlagert Sanyal das Problem in die Wahrnehmung der Tatsachen, wodurch sie das echte Problem, das Geschlechterverhältnis und seine gewaltsamen Effekte, unsichtbar macht.
Unbequeme Betroffene 1: der Brief
Ein kritischer Siedepunkt war schließlich erreicht, als Mithu Sanyal im Februar gemeinsam mit einer Ko-Autorin in der taz als die bessere Selbstbeschreibung für Betroffene „Erlebende“ vorschlug. Sie pries an diesem Wort die „höchstmögliche Wertungsfreiheit“, und befrachtete im Gegensatz dazu das Wort „Opfer“ mit negativen Eigenschaften, die sie ihm im Diskurs zugesprochen sieht. Auch hier also wieder: statt einen Diskurs zu kritisieren, dessen Opferfeindlichkeit sich eben genau darin zeigt, dass das Wort Opfer mit negativen Konnotationen belegt ist, stimmt sie genau diesen Assoziationen zu und sucht nach einem neuen Wort. Sanyal und ihre Mit-Autorin wertet in dem Artikel die Begriffe, die Betroffene für sich gefunden haben, und die anerkannt und etabliert sind, in teils flapsiger Weise ab („‘Betroffene*r‘ hört sich so … betroffen an“) und schlägt als Ersatz „Erlebende“ vor. Die Krönung des Artikel ist, dass beide den Begriff im Duden verankert sehen wollen
Die Verharmlosung von Vergewaltigung, die in diesem Wort steckt, und die durch Sanyals öffentliche Präsenz als derzeit gehypte Expertin zum Thema sexuelle Gewalt breit rezipiert und als „aktueller Stand der Dinge“ ausgezeichnet wird, hat letztlich zu einem offenen Brief der Störenfriedas geführt, initiiert durch Überlebende sexueller Gewalt. Er betont: „Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis. Sexuelle Gewalt ist eine Tat, vorrangig begangen von Männern an Frauen und Kindern. Von Erlebenden zu sprechen, bedeutet, die Tat selbst euphemistisch zum Erlebnis umzudeuten, ähnlich einem Konzertbesuch oder einem Urlaub. Opfer entscheiden nicht selbst, ob sie Opfer werden, es ist gerade Ausdruck des Gewaltverhältnisses, dass das Handeln der Täter sie zum Opfer macht.“ Der Brief wurde am letzten Wochenende veröffentlicht und sprach offenbar vielen aus dem Herzen: binnen kurzer Zeit setzten rund 250 Überlebende und UnterstützerInnen ihre Unterschrift unter den Brief, darunter Vertreterinnen von diversen Organisationen, die sich gegen sexuelle Gewalt engagieren.
Betroffenensolidarischer Umgang bedeutet in diesem Fall, das Anliegen wahrzunehmen, die Perspektive zu respektieren, auch wenn man nicht konform geht und in einen Dialog zu treten.
Mithu Sanyal reagierte tatsächlich kommunikationsbereit. Sie sah sich zwar in einem Punkt falsch dargestellt, schrieb in einem Kommentar unter den Text aber auch: „Ich finde es wichtig, wenn wir miteinander sprechen, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind.“ Auch auf ihrem Blog betonte sie: „Debatten sind gut“. Ein Austausch schien also möglich zu sein.
In der taz erschien einen Tag nach dem Offenen Brief eine Replik auf Sanyal von Simone Schmollack, die den Begriff Opfer verteidigt und sich gegen den Gebrauch von „Erlebende“ wendet.
Weitere zwei Tage später hatte sich Sanyals Einstellung zu Kommunikation offenbar geändert, denn sie verkündete auf ihrem Blog, dass sie „die vielen Falschbeschuldigungen“ aus dem Offenen Brief nun rechtlich prüfen lasse.
Am selben Tag hatte die Emma das Thema aufgegriffen und einen Artikel über die Kontroverse veröffentlicht.
Unbequeme Betroffene 2: Mithu Sanyal
Genau diesen Emma-Artikel postete einen Tag später, am Mittwoch, ein „Tim K.“ auf seiner genauso benannten Facebook-Seite mit knapp 180.000 Followern. Offenbar mit einschlägiger Gesinnung. Denn ab da begann eine Hatz von rechts gesinnten Menschen auf Mithu Sanyal. Sie suchten sie auf ihrem Facebook-Profil auf und gingen sie auf ihren öffentlichen Posts zum Thema „Erlebende“ in zutiefst sexistischer, rassistischer Form an. Das ging bis hin zu Vergewaltigungswünschen. Tim K. selbst, aber auch seine Follower verwiesen mehrfach in Kommentaren auf die FB-Seite „Tim K.“ und den dort verlinkten Artikel.
Diese Vorgänge konnte zunächst nur mitbekommen, wer sich auf ihrem Profil bewegt. Von ihren Facebook-FreundInnen, das kann man auf ihrem Profil nachvollziehen, hat sich zunächst angesichts der Schwemme rechter Hetzer niemand ihr zur Seite gestellt.
Mithu Sanyal ist mit dieser Form von Hatz Gewalt angetan worden, und wird es im schlimmsten Fall noch immer. Es ist zu hoffen, dass diese Hasswelle inzwischen ein Ende genommen hat. Was hinter den Kulissen vor sich ging, schrieb sie später auf ihrem Blog: offenbar sind ihr direkte Nachrichten mit Vergewaltigungsdrohungen geschickt worden. Das ist schlimm, und das, ebenso die öffentliche Hetze, verurteilen wir aufs Schärfste. Die rechten Angreifer haben eine innerfeministische Kontroverse instrumentalisiert, um die Gelegenheit zu nutzen, an einer rassifizierten Frau enthemmt ihren rassistischen Hass und ihre Misogynie auszuleben. Einem kontroversen, als verharmlosend empfundenen Standpunkt zu sexueller Gewalt mit Vergewaltigungswünschen zu begegnen, ist abseits der unethischen Verhaltensweise selbstwidersprüchlich und mit Feminismus und feministischer Kritik nicht vereinbar.
Unbequem als Betroffene ist Sanyal aus Sicht der Initiatorinnen und UnterzeichnerInnen des Offenen Briefes, da sie ihnen zuvor mit rechtlichen Schritten gedroht hat. Kein wirklich guter Schritt in einer Debatte, die gleichwertig geführt werden sollte und in der Betroffene – gleich welchen Standpunkt sie dabei einnehmen – das Wort führen sollten. Mira Sigel hat das in einem Brief an Mithu Sanyal auf den Punkt gebracht als einen Versuch, Betroffene, die sich in eigener Sache äußern, wieder zum Schweigen zu bringen.
Und doch waren es genau diese Frauen, die sich Sanyal umgehend als Erste zur Seite stellten. So wendete Manuela Schon, eine der Erstunterzeichnerinnen des Offenen Briefes und Mitstreiterin der Initiative, sich inmitten der rechten Hetzer in einem Kommentar gegen die rassistischen, sexistischen Kommentatoren. Die Initiative #ichhabnichtangezeigt postete auf Facebook und Twitter eine Verurteilung der gewaltsamen Hetze gegen Mithu Sanyal, und diese Stellungnahme wurde von den Störenfriedas geteilt.
Unbequeme Betroffene 3: die Störenfriedas
Am Tag nach dem Einsetzen des Shitstorms reagierte Mithu Sanyal mit einem Hilferuf. Unter der Überschrift „Welchen Feminismus wollen wir“ schreibt sie auf ihrem Blog: „Zur Zeit erhalte ich nahezu sekündlich mails von Menschen, die mir wünschen, vergewaltigt zu werden und/oder in das Heimatland meiner Eltern zurückgeschickt zu werden und dort vergewaltigt zu werden. Auslöser war der offene Brief der Störenfriedas. Hier ist meine Reaktion darauf. Wenn Ihr etwas tun wollt, mailt freundlich und solidarische Kommentare auf social media.“
Was hier passiert, ist einfach: Mithu Sanyal macht einen kleinen, eindeutig links verorteten radikalfeministischen Blog mit etwa 3 1/2 Tausend Followern für etwas verantwortlich, das von der Seite eines in Punkto Anzahl und Aggressivität seiner Follower weitaus mächtigeren Menschen, nämlich Tim K., ausgelöst wurde.
Während einzelne Unterstützerinnen und die Initiatorinnen des Offenen Briefes, die Störenfriedas, sich gegen die rechte Hetze an Mithus Seite stellten, haut diese sie kurz darauf also in die Pfanne.
Statt die rechte Gewalt als das zu benennen, was sie ist: rechte Gewalt – ist es offenbar einfacher, ein paar Feministinnen verantwortlich zu machen. Auch in ihrer auf dem Blog verlinkten Stellungnahme auf Huffington Post haut Sanyal weiter in diese Kerbe. Sie tut damit zweierlei: den Störenfriedas Unrecht, und den rechten Hetzern einen Gefallen – denn die Kritik richtet sich nun nicht gegen die eigentlichen Gewalttäter.
Die Debatte, die angesichts der rechten Hetze eigentlich zusätzlich zur ursprünglichen gefragt ist, beinhaltet Fragen wie, welche Strategien gegen rechte Versuche des Mundtotmachens von Feministinnen gefunden werden können; und wie auch sich spinnefeind gesonnene feministische Lager angesichts rechter Bedrohungen es schaffen können, zumindest gegen diese zusammenhalten.
Vielleicht ist es nicht zu spät, zu erkennen: eine Verantwortungsverkehrung wie Sanyal sie vorgenommen hat, hilft nur den Rechten. Auch wenn Mithu Sanyal möglicherweise kurzfristig einen Vorteil für sich darin gesehen hat, die Verantwortung auf den aufsässigen unbequemen Blog mit so unnachgiebiger Kritik an ihren Äußerungen zu verlagern, und dessen Kritik auf diese Weise stummzuschalten: das ist nichts, was sich als Strategie etablieren sollte. Es wird langfristig nach hinten losgehen.
Erfreulich war, dass nach Sanyals Hilferuf und Anklage (der Falschen) endlich auch ihre FreundInnen und Bekannten in Gang kamen, und die Solidaritätserklärungen sich mehrten. Doch zu viele von ihnen haben blindlings Sanyals Beschuldigung der Störenfriedas übernommen und hielten auch nach Versuchen, sie zu korrigieren, daran fest. Und das geht nun durchs Netz, bis hin dazu, dass den Störenfriedas Schulterschluss mit Rechten unterstellt wird. Auch das ist einfach zu beschreiben, diesmal mit nur einem Wort: Rufmord.
Wir, die Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt, verurteilen das und stehen in dieser Sache klar an der Seite der Störenfriedas. Möglicherweise ist es inmitten eines rechten Shitstormes und konfrontiert mit furchtbaren Bedrohungen nicht wirklich leicht, klarzusehen und die richtigen Schritte zu unternehmen. Daher fordern wir Mithu Sanyal auf, ihre Beschuldigung der Störenfriedas zu überdenken und zurückzunehmen.
Und dann sind da noch die Inhalte, um die es ursprünglich ging…
Wir erwarten, dass betroffenensolidarische Expertinnen zum Thema Vergewaltigung die ihnen angebotene Öffentlichkeit nutzen, um Botschaften zu vermitteln, die den Status quo ändern können. Dass sie die Chance nutzen, an einem Bewusstseinswandel mitzuwirken.
Sanyals Äußerungen sind dazu bisher nicht geeignet; sie sind leider nicht nur sinnlos, sondern sogar schädlich. Wenn Sanyal zwar, wie sie richtiggestellt hat, im taz-Artikel am Schluss erklärt, dass jede/r Betroffene das Recht habe, sich weiterhin so zu bezeichnen, wie es ihr/ihm am ehesten entspricht, dann bleibt die vorherige Abwertung der anderen Begriffe trotzdem bestehen. Sie bescheinigt Jugendlichen, die das Wort Opfer als Beleidigung verwenden, ein „feines Sprachgefühl“ und bejaht damit die Opferverhöhnung, die das ist, anstatt bloßzulegen, welch brutalisierte Haltung dahintersteckt und wie verletzend das für Menschen ist, die Opfer geworden sind. Faktisch verdeckt und bestätigt sie mit ihrer Argumentation betroffenenfeindliche Einstellungen.
Sanyals Verlag Edition Nautilus schreibt: „Am Thema Vergewaltigung entzünden sich immer wieder erbitterte Debatten, manifestiert sich die Haltung der gesamten Gesellschaft gegenüber Geschlecht, Sexualität und Verletzbarkeit. Doch trotz breiter medialer Berichterstattung gibt es bis jetzt keine umfassende, sachliche Auseinandersetzung mit diesen Zusammenhängen. Mithu M. Sanyal schließt diese Lücke.“
Das stimmt jedoch nicht. Bereits in den Neunzigern hat Ursula Enders mit „Zart war ich, bitter war‘s. Handbuch gegen sexuelle Gewalt“ ein umfassendes Standardwerk vorgelegt, das weiterhin Maßstäbe setzt. Es gibt noch einige weitere Bücher, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichem Fokus beeindruckend und weiterführend mit dem Thema auseinandersetzen. Diese Bücher und ihre AutorInnen anzuerkennen, sehen wir als einen politischen Akt des Anknüpfens an und Würdigens ihrer Aufklärung über sexuelle Gewalt und damit ihres Beitrags im Kampf gegen sexuelle Gewalt. Das von ihnen erarbeitete Wissen gibt zudem Kraft für gegenwärtige Anliegen – seien es Widerstand und Kämpfe, oder Empowerment und Stärkung in einer betroffenenfeindlichen Gesellschaft.
Aus diesem Grund beginnt auf unserem Blog in Kürze eine Serie mit Rezensionen von Büchern, die unseres Erachtens nach einen wertvollen Beitrag zum Thema sexuelle Gewalt leisten.