Der entlarvende Umgang im Fall Edathy deckt auf.
Aktuell erregen sich die Gemüter über die Ermittlungen gegen Edathy bezüglich Kinderpornografie; dabei geht es aber immer mehr um den ‚ungeheuerlichen Vorwurf‘ selbst als um das eigentliche Problem Kinderpornografie. Das Gros des Medientrubels dreht sich nur mit der Frage ab wann Kinderbilder juristisch gesehen pornografisch seien im Kreise. Evtl. seien Ermittlungen gar nicht gerechtfertigt gewesen.
Aber was helfen solch Aufregungen, wenn dabei das eigentliche Problem mehr und mehr in Hintergrund tritt? Es wird vergessen, warum es überhaupt das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gibt: Die Aufgabe, vor Übergriffigkeiten zu schützen! Wer dazu arbeiten (können) soll, kommt nicht umhin, sich schmutzig zu machen: sei es nun am Dreck der Täter oder dem eigenen. Aktuell herrscht aber ein Klima, das sich mehr um die Rechte Tatverdächtiger als die der betroffenen Kinder sorgt. Wer will da im Zweifelsfall noch einen Irrtum wagen? Wen wundert’s dann, wenn mitunter nicht nur Staatsanwaltschaften in Sorge um das eigene Wohl in Untätigkeit verharren, als auch Lehrkräfte und sonstige Menschen, deren Zivilcourage gefragt gewesen wäre.
Es gibt natürlich auch jene, die lieber wegschauen, um nicht die Utopie ihrer heilen Welt einstürzen sehen zu müssen; Familien und Partnerschaften sind der Haupttatort sexueller Gewalt. Andere glauben, sich um die Probleme anderer nicht kümmern zu müssen.
Letztlich bleibt uns aber nur einzusehen übrig, dass alle mit sexueller Gewalt konfrontiert sind: ob direkt (durch Vergewaltigung und Nötigung) betroffen oder indirekt über betroffene Menschen aus dem persönlichen Umfeld. Irgendwer wird vermutlich immer behaupten, das träfe nicht auf sie zu. Wäre wünschenswert, sie hätten recht. Aber, wer ist schon sicher vor sexueller Gewalt oder erzählt allen mal locker davon?
Anstatt zu jammern und immer wieder vom Problem abzulenken, schlage ich dagegen vor, Augen, Ohren und Herz zu öffnen. Und dann bitte ehrlich fragen:
Wie soll es funktionieren, dass sich andere kümmern sollen aber wir nicht belästigt werden wollen?
Und wollen wir den gesellschaftlichen und justiziellen Zustand des Misstrauens gegenüber Aussagen von Betroffenen, die sich ja eh immer nur ‚in Widersprüche‘ verstricken?
Überhaupt dieser Satz „Die Zeugin verstrickte sich in Widersprüche.“!
Ständig muss ich ihn in Gerichtsberichten lesen. Ich bin ihn und den ihm eigenen Mangel an Empathie und Sachverständigkeit zu Traumata leid.
Unlängst erlebte ich selbst, wie es mir schwer fiel eine stimmige Aussagen abzugeben. Das war bei einem kleinen Fahrradunfall, also vergleichsweise glimpflich und schon gar nicht traumatisch. Trotzdem trieb mich der Verursacher mit seinen dreisten Beschimpfungen und anschließender Fahrerflucht an den Rande eines Nervenzusammenbruchs. Eine klare, lückenlose Beschreibung von Täter und Hergang war mir im anschließenden Polizeiprotokoll schon nicht möglich. Hätte ich dazu gar noch später vor Gericht aussagen müssen, wäre es vermutlich nur eine Frage von Zeit und kritischer Nachfragen gewesen, bis auch ich mich in Widersprüche verheddert hätte. Vielleicht hätte ich mir auch mein Hinterkopf und die darin schwelende Sorge ein Bein gestellt: Hoffentlich urteilt der Richter nicht anschließend „Der Auftritt von ihr war schlicht eine Katastrophe!“. Eine Betroffene meinte dazu kürzlich: „Meiner Meinung nach, ist eine katastrophale Zeugin eine glaubhafte Zeugin.“ Das glaube ich prinzipiell auch! Aber hätte mir das geholfen?
Wie passen also die Voraussetzungen bei Gericht sowie Hilfsangeboten zur Situation Betroffener?
Sowohl die Gesetze zu Sexualstraftaten als auch der Opferentschädigung (das bürokratische OEG) werden eher im Ausnahmefall als denn in der Regel mit Resultaten in die Praxis umgesetzt. Beratungs- und Hilfsangebote, wie die der Frauenhäuser oder geeignete Therapieplätze, sind finanziell unterfinanziert so dass Betroffene häufig abgewiesen oder auf lange Wartezeiten vertröstet werden müssen.
Sexuelle Gewalt kümmert die Menschen eigentlich schon; ‚Schließlich gibt es dagegen Gesetze!‚ sagen wir uns ja stets. Eher bereiten uns die daraus folgenden Konsequenzen das Problem, weil eben unbequem. Denn in der Realität wird ja (s. Absatz zuvor) darauf spekuliert, dass Betroffene sich irgendwie selbst aus dem Sumpf ziehen. Solch Vorstellung ist natürlich ein Lügenmärchen, so wie die stereotypen Vorstellungen von Vergewaltigungen hinter dunklen Büschen mit fremden Tätern, die wohl nur durch alkoholisiertes Verhalten und aufreizende Kleidung Betroffener provoziert wurden…
Es wird Zeit, sich gesellschaftlich, medial, folglich auch in Justiz und Politik der Aufgabe und der Verantwortung zu stellen. Und deshalb muss die Sorge um die Betroffenen Vorrang vor dem Schutz der Täter und Täterinnen haben.
Um also weiterzukommen, möchte ich diese Frage an uns alle stellen: Was könnte zu mehr Gerechtigkeit beitragen? Welche Maßnahmen könnten helfen, dass mehr als nur 5% der Sexualstraftaten angezeigt würden und nicht nur 13 % davon zur Verurteilung führen (s. Studie des BMFSFJ)?
Zu den Vorschlägen:
Anzeigepflicht von Lehrkräften, Vereinspersonal & Co. : Gut gemeint, wird damit leider die Entscheidungsfreiheit der Betroffenen übergangen. Nicht alle werden sich psychisch einem solchen Verfahren gewachsen fühlen, gerade auch wegen der ungewissen Aussichten. Wer durch Polizei und Justiz nicht ausreichend vor Vergeltungsmaßnahmen der Angezeigten als auch dem Druck eigener Familien geschützt werden kann, muss die Risiken für sich auch abwägen dürfen.
Hilfreicher wäre m.E. dagegen die Weiterbildung von Lehrkräften etc. um ihnen ihre Hilflosigkeit zu nehmen. Statt Anzeigepflicht also lieber Mitwirkungspflicht.
Präventions- und Aufklärungsarbeit: Das scheint mir dagegen gerade in Erziehungseinrichtungen sinniger, wenn es altersgerecht geschieht und dann bestenfalls die Eltern miteinbezogen werden. Das setzt auch ein No-Tolerance-Zeichen an Erwachsene.
Aber auch am anderen Ende macht Präventionsarbeit Sinn, in dem sich mit einem Therapieangebot an Menschen gerichtet wird, bevor sie straffällig werden. Hier wäre ein bundesweiter Ausbau des Netzwerks nützlich, als auch die Ausweitung des Tätigkeitsfeldes, das sich eher auf Pädophile beschränkt.
Auch verfahrensbeteiligtes Personal in der Justiz müsste sich entsprechend fachlich qualifizieren, so dass sie auch sachlich angemessener auf Betroffene eingegangen werden könnte. Dazu würde dann auch gehören, die Verfahren zügig korrekt zu behandeln und den Betroffenen unnötige Aussagen (Aussagequalität sinkt mit zunehmender Zeit) und die Konfrontation mit Angeklagten (Videoaussage) zu ersparen.
Verletzten ZeugInnen müsste eine kostenlose Rechtsberatung gewährt werden, die sie bezüglich ihrer Rechte und dem Verfahrensablauf aufgeklärt.
Zudem bedarf es eines klaren unmissverständlichen Gesetzestextes, der auch ein ignoriertes Nein für ausreichend genug befindet. Menschen in schutzlosen Lagen müssen eindeutig geschützt werden (z.B. bei psychischer Gewalt, Drogen- und Alkoholkonsum Betroffener), so dass kein Spielraum zur üblichen Schuldübertragung auf die Betroffenen übrig gelassen wird.
Zu allerletzt und allererst müssen allerdings viele Einzelne gemeinsam zu einem gemeinschaftlichen Wandel beitragen. Also mit den alltäglichen, kleinen Dingen, die jeder Mensch mittragen kann:
Den Aussagen Betroffener prinzipiell vertrauen (die Falschbeschuldigungsrate beträgt ca. 3%), sich gegen Witze unter der Gürtellinie abgrenzen, Vergewaltigungsmythen enttarnen, gesellschaftliche Strukturen bezüglich struktureller und sexueller Gewalt hinterfragen und nicht blind mittragen, dafür aber Petitionen oder auch engagierte Gruppen unterstützen etc.
Damit dies nicht nur Überlegungen bleiben sondern wir zu wirkungsvollen und bedürfnisnahen Forderungen kommen, sind dazu Eure Vorschläge und Rückmeldungen willkommen.
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[…] in der diese sich gerne als verfolgte Minderheit darstellen. Kommentatorin chirlu wies außerdem darauf hin, daß der Titel “Kein Täter werden” irreführend ist, da der Großteil der dort […]