Wie kümmern wir uns um sexuelle Gewalt?

21 Kommentare.

Der entlarvende Umgang im Fall Edathy deckt auf.

Aktuell erregen sich die Gemüter über die Ermittlungen gegen Edathy bezüglich Kinderpornografie; dabei geht es aber immer mehr um den ‚ungeheuerlichen Vorwurf‘ selbst als um das eigentliche Problem Kinderpornografie. Das Gros des Medientrubels dreht sich nur mit der Frage ab wann Kinderbilder juristisch gesehen pornografisch seien im Kreise. Evtl. seien Ermittlungen gar nicht gerechtfertigt gewesen.

Aber was helfen solch Aufregungen, wenn dabei das eigentliche Problem mehr und mehr in Hintergrund tritt? Es wird vergessen, warum es überhaupt das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gibt: Die Aufgabe, vor Übergriffigkeiten zu schützen! Wer dazu arbeiten (können) soll, kommt nicht umhin, sich schmutzig zu machen: sei es nun am Dreck der Täter oder dem eigenen. Aktuell herrscht aber ein Klima, das sich mehr um die Rechte Tatverdächtiger als die der betroffenen Kinder sorgt. Wer will da im Zweifelsfall noch einen Irrtum wagen? Wen wundert’s dann, wenn mitunter nicht nur Staatsanwaltschaften in Sorge um das eigene Wohl in Untätigkeit verharren, als auch Lehrkräfte und sonstige Menschen, deren Zivilcourage gefragt gewesen wäre.

Es gibt natürlich auch jene, die lieber wegschauen, um nicht die Utopie ihrer heilen Welt einstürzen sehen zu müssen; Familien und Partnerschaften sind der Haupttatort sexueller Gewalt. Andere glauben, sich um die Probleme anderer nicht kümmern zu müssen.

Letztlich bleibt uns aber nur einzusehen übrig, dass alle mit sexueller Gewalt konfrontiert sind: ob direkt (durch Vergewaltigung und Nötigung) betroffen oder indirekt über betroffene Menschen aus dem persönlichen Umfeld. Irgendwer wird vermutlich immer behaupten, das träfe nicht auf sie zu. Wäre wünschenswert, sie hätten recht. Aber, wer ist schon sicher vor sexueller Gewalt oder erzählt allen mal locker davon?

Anstatt zu jammern und immer wieder vom Problem abzulenken, schlage ich dagegen vor, Augen, Ohren und Herz zu öffnen. Und dann bitte ehrlich fragen:

Wie soll es funktionieren, dass sich andere kümmern sollen aber wir nicht belästigt werden wollen?

Und wollen wir den gesellschaftlichen und justiziellen Zustand des Misstrauens gegenüber Aussagen von Betroffenen, die sich ja eh immer nur ‚in Widersprüche‘ verstricken?

Überhaupt dieser Satz „Die Zeugin verstrickte sich in Widersprüche.“!

Ständig muss ich ihn in Gerichtsberichten lesen. Ich bin ihn und den ihm eigenen Mangel an Empathie und Sachverständigkeit zu Traumata leid.

Unlängst erlebte ich selbst, wie es mir schwer fiel eine stimmige Aussagen abzugeben. Das war bei einem kleinen Fahrradunfall, also vergleichsweise glimpflich und schon gar nicht traumatisch. Trotzdem trieb mich der Verursacher mit seinen dreisten Beschimpfungen und anschließender Fahrerflucht an den Rande eines Nervenzusammenbruchs. Eine klare, lückenlose Beschreibung von Täter und Hergang war mir im anschließenden Polizeiprotokoll schon nicht möglich. Hätte ich dazu gar noch später vor Gericht aussagen müssen, wäre es vermutlich nur eine Frage von Zeit und kritischer Nachfragen gewesen, bis auch ich mich in Widersprüche verheddert hätte. Vielleicht hätte ich mir auch mein Hinterkopf und die darin schwelende Sorge ein Bein gestellt: Hoffentlich urteilt der Richter nicht anschließend „Der Auftritt von ihr war schlicht eine Katastrophe!“. Eine Betroffene meinte dazu kürzlich: „Meiner Meinung nach, ist eine katastrophale Zeugin eine glaubhafte Zeugin.“ Das glaube ich prinzipiell auch! Aber hätte mir das geholfen?

Wie passen also die Voraussetzungen bei Gericht sowie Hilfsangeboten zur Situation Betroffener?

Sowohl die Gesetze zu Sexualstraftaten als auch der Opferentschädigung (das bürokratische OEG) werden eher im Ausnahmefall als denn in der Regel mit Resultaten in die Praxis umgesetzt. Beratungs- und Hilfsangebote, wie die der Frauenhäuser oder geeignete Therapieplätze, sind finanziell unterfinanziert so dass Betroffene häufig abgewiesen oder auf lange Wartezeiten vertröstet werden müssen.

An den Haaren reißen um sich aus dem Sumpf zu ziehenSexuelle Gewalt kümmert die Menschen eigentlich schon; Schließlich gibt es dagegen Gesetze! sagen wir uns ja stets. Eher bereiten uns die daraus folgenden Konsequenzen das Problem, weil eben unbequem. Denn in der Realität wird ja (s. Absatz zuvor) darauf spekuliert, dass Betroffene sich irgendwie selbst aus dem Sumpf ziehen. Solch Vorstellung ist natürlich ein Lügenmärchen, so wie die stereotypen Vorstellungen von Vergewaltigungen hinter dunklen Büschen mit fremden Tätern, die wohl nur durch alkoholisiertes Verhalten und aufreizende Kleidung Betroffener provoziert wurden…

Es wird Zeit, sich gesellschaftlich, medial, folglich auch in Justiz und Politik der Aufgabe und der Verantwortung zu stellen. Und deshalb muss die Sorge um die Betroffenen Vorrang vor dem Schutz der Täter und Täterinnen haben.

Um also weiterzukommen, möchte ich diese Frage an uns alle stellen: Was könnte zu mehr Gerechtigkeit beitragen? Welche Maßnahmen könnten helfen, dass mehr als nur 5% der Sexualstraftaten angezeigt würden und nicht nur 13 % davon zur Verurteilung führen (s. Studie des BMFSFJ)?

Zu den Vorschlägen:

Anzeigepflicht von Lehrkräften, Vereinspersonal & Co. : Gut gemeint, wird damit leider die Entscheidungsfreiheit der Betroffenen übergangen. Nicht alle werden sich psychisch einem solchen Verfahren gewachsen fühlen, gerade auch wegen der ungewissen Aussichten. Wer durch Polizei und Justiz nicht ausreichend vor Vergeltungsmaßnahmen der Angezeigten als auch dem Druck eigener Familien geschützt werden kann, muss die Risiken für sich auch abwägen dürfen.

Hilfreicher wäre m.E. dagegen die Weiterbildung von Lehrkräften etc. um ihnen ihre Hilflosigkeit zu nehmen. Statt Anzeigepflicht also lieber Mitwirkungspflicht.

Präventions- und Aufklärungsarbeit: Das scheint mir dagegen gerade in Erziehungseinrichtungen sinniger, wenn es altersgerecht geschieht und dann bestenfalls die Eltern miteinbezogen werden. Das setzt auch ein No-Tolerance-Zeichen an Erwachsene.

Aber auch am anderen Ende macht Präventionsarbeit Sinn, in dem sich mit einem Therapieangebot an Menschen gerichtet wird, bevor sie straffällig werden. Hier wäre ein bundesweiter Ausbau des Netzwerks nützlich, als auch die Ausweitung des Tätigkeitsfeldes, das sich eher auf Pädophile beschränkt.

Auch verfahrensbeteiligtes Personal in der Justiz müsste sich entsprechend fachlich qualifizieren, so dass sie auch sachlich angemessener auf Betroffene eingegangen werden könnte. Dazu würde dann auch gehören, die Verfahren zügig korrekt zu behandeln und den Betroffenen unnötige Aussagen (Aussagequalität sinkt mit zunehmender Zeit) und die Konfrontation mit Angeklagten (Videoaussage) zu ersparen.

Verletzten ZeugInnen müsste eine kostenlose Rechtsberatung gewährt werden, die sie bezüglich ihrer Rechte und dem Verfahrensablauf aufgeklärt.

Zudem bedarf es eines klaren unmissverständlichen Gesetzestextes, der auch ein ignoriertes Nein für ausreichend genug befindet. Menschen in schutzlosen Lagen müssen eindeutig geschützt werden (z.B. bei psychischer Gewalt, Drogen- und Alkoholkonsum Betroffener), so dass kein Spielraum zur üblichen Schuldübertragung auf die Betroffenen übrig gelassen wird.

Zu allerletzt und allererst müssen allerdings viele Einzelne gemeinsam zu einem gemeinschaftlichen Wandel beitragen. Also mit den alltäglichen, kleinen Dingen, die jeder Mensch mittragen kann:

Den Aussagen Betroffener prinzipiell vertrauen (die Falschbeschuldigungsrate beträgt ca. 3%), sich gegen Witze unter der Gürtellinie abgrenzen, Vergewaltigungsmythen enttarnen, gesellschaftliche Strukturen bezüglich struktureller und sexueller Gewalt hinterfragen und nicht blind mittragen, dafür aber Petitionen oder auch engagierte Gruppen unterstützen etc.

Damit dies nicht nur Überlegungen bleiben sondern wir zu wirkungsvollen und bedürfnisnahen Forderungen kommen, sind dazu Eure Vorschläge und Rückmeldungen willkommen.

21 Responses to “Wie kümmern wir uns um sexuelle Gewalt?”

  1. Theresa Jakob

    eine grundlegende Reform des OEG muss endlich auf den Weg gebracht werde. immer noch ist der „Gewaltbegriff“ im OEG so eng definiert – das
    alle taten bei denen es nicht zu einer sichtbaren körperverletzung gekommen ist – nicht im sinne der opfer entschieden werden obwohl höchstrichtrerliche rechtsprechung längst den gewaltbegrif auch auf kindesmissbrauch, misshandlung, physische, psychische u seelische gewalt ausgedehnt hat. die ämter klären weder darüber auch geschweige denn entscheiden sie positiv wenn zwar einer der 4 gewaltbegriffe erfüllt ist aber keinje körperverletzung im herkömmlichen sinn vorliegt

    selbst missbrauchsopfer die zweifelsohne von krankjenkassen u versorgungsrechtlich als opfer anerkannt sind – müssen mit ablehung ihrer anträge rechen weil ihnen ein „versagensgrund wg nichtmittwirkung“ vorgeworfen wird – sie haben nicht angezeigt !

    besonders pervers ist die lage für opfer von sexueller gvewalt wenn sie in einer klinim stattfindet – dort geniest – besonders in psychiatrischen u psychotherapeutischen kliniken der täter sozialdatenschutz durch die klinik so das selbst eine anzeige dazu führen kann das die ermittlung eiungestellt werden und dann der oeg antrag wegen mangeldem „vollbeweis“ abgelehnt wird

    die ausgestralltung u umsetzung des oeg für opfer sexualkisierter gewalt ist eine verhönung u ein instrument der retraumatisierung

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    • Corina

      Dankesehr für die informativen und leider mal wieder gruseligen Ausführungen. Die Reformierung des OEG gehört in den Forderungskatalog der Initiative.
      Für Quellangaben zu den höchstrichterlichen Rechtsprechungen sowie zum Sozialdatenschutz / mangelndem Vollbeweis wäre ich dankbar.

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  2. Astrid Thielemann

    Liebe Corina, Dein Text ist sehr gut.
    Mein Vorschlag dazu ist folgender:
    Die Einrichtung einer Ansprechstelle wäre sinnvoll. Damit die Opfer sexueller Übergriffe, wo alle hingehen können – auch Kinder ohne Eltern – sich vertrauensvoll mit jemanden über die Situation auseinder setzen können.
    Es sollte eine psychologische Unterstützung geben und ein Papier in dem alle Möglichkeiten sexueller Übergriffe aufgelistet sind. Inklusvie unpersönliche Formulierungen, um die Taten aus der Sicht eines Opfers darstellen zu können.
    Damit die Betroffenen Formulierungen heben, um den Sachverhalt vor Gericht/Polizei usw. unabhängig von ihren persönlichen Empfindungen, sachlich darstellen zu können.

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    • Corina

      Danke für das Feedback.
      Bislang habe ich viel Positives zu Wildwasser und den Frauennotrufen, die häufig sehr engagiert sind, gehört. Leider gibt es nicht in allen Städten bzw. deren Gerichten Zeugenbetreuungen. Die hiesige in Frankfurt arbeitet mit dem Trauma- und Opferzentrum zusammen.
      Bezüglich der Formulierungen: Ist das noch anders gemeint, als bezüglich ‚fehlender Worte‘, also der Schwierigkeit das erlebte Unrecht konkret fassen und benennen zu können?

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      • Astrid Thielemann

        Ja, es ist so gemeint wie Du sagtest, aber auch noch:
        Das das Opfer sich selber distanzieren kann von dem Erlebten.
        Ich denke wenn man durch Vor-Formulierungen anderer sich ausdrücken kann, hat man vielleicht nicht mehr so einen starken emotionalen Bezug zu der Beschreibung des Geschehens.

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  3. Sabrina Bowitz

    Dein Text trifft es auf den Punkt, aber das hatte ich dir ja schon gesagt. Für mich ist grundlegend auch erst einmal ein Umdenken bei RichterInnen wichtig. Leitfäden und Workshops dazu, sowie auch Weiterbildungen, wie und warum und was bei sexueller Gewalt geschieht, wären nötig und wenn das möglich ist, auch Gespräche mit den Betroffenen.
    Denn: Sätze wie „Sie hat sich katastrophal verhalten und war daher unglaubwürdig“ fallen doch desöfteren. Und was das Schäkern im Gerichtssaal (auch schon bei einem Vergewaltigungsfall erlebt…) für die Opfer bedeutet, davon auch nicht zu sprechen.
    Weiterhin ist es wichtig, dass sich alle in der Gesellschaft klar machen
    bzw., dass vor allem durch das Gericht klar gemacht wird, dass sexuelle Gewalt uns alle angeht. Und dass wir auch alle dafür sorgen können,
    dass sie gerecht bestraft wird und als eines der schlimmsten Vergehen gegen die menschliche Würde und Selbstbestimmung ( wie im Grundgesetz festgeschrieben) angesehen werden muss.
    Noch wünschenswerter ist es, dass der Opferschutz vor Gericht gestärkt wird, dass die Unschuldsvermutung, wie du es gut gesagt hast Corina, auch für die Opfer gilt, nicht nur für die Täter und dass die Betroffenen ernst genommen werden in ihren Aussagen. Es ist natürlich wichtig, dass Aussagen überprüft werden, jedoch wird in Vergewaltigungsfällen oft derart hämisch nachgefragt, dass es mir schleierhaft ist, wie objektiv und ohne Vorbehalte dieses Nachfragen ist. Hier könnte einmal weiter überlegt werden, warum sich Vergewaltigungsmythen und diese Häme so derart festgesetzt haben in den Köpfen der
    Menschen.
    Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt und der Opferschutz ist für jede
    Bürgerin und jeden Bürger wichtig und sollte im Gericht sensibel
    und auch für die Opfer gerecht umgesetzt werden.
    Damit überhaupt mehr Menschen anzeigen und auch damit wir
    alle sicherer leben können, weil eines der schlimmsten Vergehen
    bei uns auch genauso sorgsam und aufrichtig im Prozess behandelt
    wird und der Täter nicht mit Milde rechnen kann, wenn er keine
    verdient hat.

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    • Corina

      Ich glaube auch, dass sich Gesellschaft und Rechtsprechung jeweils gegenseitig bedingen. Vergewaltigungsmythen und unangemessenes Misstrauen (weil ohne reale Grundlage) gegenüber Betroffenen bedingen u.a. die niedrige Verurteilungsquote. So zeigen dann auch wieder weniger Menschen an. Und denen geht es meistens weniger um das Strafmaß an sich, sondern darum, dass die Wahrheit auch als solche anerkannt wird – und natürlich auch die Folgen. Wer die Wahrheit sagt, soll sich nicht vor einem zusätzlichen ‚Gerichtstrauma wegen Misstrauen‘ oder gar vor Strafe fürchten müssen.
      Nur: wie kommen wir dahin, dass sich bspw. sexuelle Nötigung so wie Nötigung im Straßenverkehr anzeigen ließe. Also, dass sich der Angezeigte erst einmal dazu zu rechtfertigen hat, anstatt dass vorab die Glaubwürdigkeit der Zeugin per Gutachten hinterfragt wird. Denn wer von sexueller Gewalt betroffen ist kann ja nicht bloß durch diesen Umstand weniger glaubwürdig sein, als wenn ein Unrecht in Straßenverkehr passiert wäre (wo es auch nicht immer ZeugInnen gibt).

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  4. AO

    Sehr reflektierter und guter Text, danke!

    Ich habe mir in letzter Zeit die Frage gestellt, warum ein juristisches Ergebnis für das Opfer so wichtig ist.

    Ich denke, dass in der heutigen Situation eine Verurteilung des Täters für das Opfer auch deshalb so wichtig ist, weil das Opfer von der Gesellschaft kaum Rückhalt und Unterstützung bekommt. Selbst wenn es geglaubt wird, dass die Tat geschehen ist – wenn es um den „Schutz“ der Opfers geht, sind es die Opfer, die gehen müssen. Es sind Opfer, die nach der Tat als psychisch krank stigmatisiert werden. Es sind Opfer, die dann vom sozialen und beruflichen Umfeld abgeschnitten werden, weil keiner so recht weiß, wie man mit „Opfern“ umgehen soll, oft wird dann aus Ratlosigkeit über die Tat gescherzt, und es wird dann von Opfern erwartet, dass sie für diese Scherze Verständnis aufbringt, man müsse doch verstehen, dass die Leute überfordert sind, wenn man sowas thematisiert….

    Und wenn man nicht geglaubt wird, heißt es „Du übertreibst alles“, „Du bist unfair“, „Du hast keine Ahnung, was sexuelle Gewalt ist“…

    Wenn es vom Umfeld mehr Verständnis gäbe, einfach so, dann würde das Leben weiter gehen. Dann hätte man nicht soviel Bedürfnis nach Gerechtigkeit vor der Justiz.

    Das Problem ist, dass in dem Moment, wo man über die Tat spricht, die Gesellschaft einen auch noch zusätzlich runtermacht, in der Heilung bremst und weitere Steine auf den Weg legt. Es gibt leider nicht wenige Leute, die – wenn sie wissen, dass jemand einen wunden Punkt hat – gerade da ansetzt, um diesen fertig zu machen. Und DAS ist nicht fair.

    Schweigen und alles in sich fressen aus Selbstschutzgründen ist aber auch keine Lösung.

    Wahrscheinlich muss man also viel globaler ansetzen und das zwischenmenschliche Miteinander stärker fördern. Die „Ellenbogengesellschaft“ in der heutigen Form (wer Macht hat, wer Geld hat, wer leistungsfähig ist – der darf alles, auch auf Kosten anderer) ist nicht gesund.

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    • Corina

      Dankesehr. Ich antworte hier mal zusammenfassend auf beide Kommentare.
      Ich denke, essentiell wichtig wäre dazu, das unliebsame, ach so ‚unerträgliche‘ Thema sexuelle Gewalt alltäglicher zu besprechen. Das wird unweigerlich sensibilisierende Wirkungen haben. Menschen werden begreifen, dass sie nur dazugewinnen, wenn sie auf sexistische Witze und sonstige Übergriffigkeiten verzichten. Ist ja nicht so, dass es sonst nichts Erheiterndes im Leben gäbe.
      Wir würden auch gern dazu beitragen, Betroffene ins öffentliche Bewusstein zu bringen. Bislang finde ich es allerdings schwer, bspw. eine ‚outende‘ (sexuelle Gewalt sollte nichts sein, das Betroffene eingestehen – sondern die TäterInnen) Videokampagne mit Betroffenen zu starten, und zugleich deren Stigmatisierung zu verhindern. Deshalb wäre ich erst mal für die Umsetzung des o.g. ersten Schritts. Dann klappt’s auch mit dem entspannteren Umgang.
      Wer Betroffenen helfen möchte, hilft genau wie Du es sagst, mehr mit Empathie und mitunter leidenschaftlicher Anteilnahme als mit überaufgeregter Empörung. Blöd, wenn Traumatisierte hier noch Beruhigungsarbeit leisten sollen, oder sie in ihren Versuchen gestört werden, langsam zur Ruhe zu kommen.
      Und um’s noch deutlicher zu machen, auch Engagement gegen sexuelle Gewalt macht Spaß! Doch bislang begegnet mir bei anerkennendem Schulterklopfen gleichzeitig noch so viel Kopfschütteln a là „Ist ja toll, was Ihr macht, aber mir wäre das zu viel!“ Nunja, nicht jede/r ist zum Aktivismus geboren (in unserer Initiative vermutlich auch kaum jemand). Zudem gibt aber auch andere Mittel, Initiativen wie diese zu unterstützen: darüber sprechen, weiterempfehlen, Ideen teilen, finanzieller Support…
      Und a pro pos Salons. Egal ob beim Tee oder bei Wein und Bier; wenn andere sich dort anzüglich unterhalten dürfen, lass ich mir auch nicht verbieten, über sexuelle Gewalt zu sprechen. Aber das hat bislang auch niemand gewagt :-).

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      • AO

        Hallo Corina,

        Du schreibst: „wenn andere sich dort anzüglich unterhalten dürfen, lass ich mir auch nicht verbieten, über sexuelle Gewalt zu sprechen. Aber das hat bislang auch niemand gewagt :-).“

        Wie schaffst Du es, dass keiner im „Salon“ Dir verbietet, über sexuelle Gewalt zu sprechen? Mir passiert das schon, dass man es mir regelrecht verbietet, oder man mich zum Stillschweigen oder Weggehen bringt, weil man mit noch mehr Sexwitzen kommt oder dann gleich 5 Leute mit Belehrungen kommen (so nach dem Motto, dass ich nicht normal bin, und ich es lernen müsse, das Leben mit Humor zu nehmen, und außerdem müsse ich lernen, mich von solchen Witzen nicht berühren zu lassen. Oder nach dem Motto, Du kannst andere nicht ändern, Du darfst hier nicht die Moralpolizei spielen).

        Es würde mich echt interessieren, was man in solchen Situationen tun kann.

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        • Corina

          Hm, vielleicht ist die Welt hier in Frankfurt doch besser als gedacht? 😉 Aber mal ernsthaft: Vielleicht komme ich nicht immer als Moralpolizei an, denn bei aller Ernsthaftigkeit, vergeht mir dennoch nicht das Lachen und der Spaß.
          Das betrifft auch, was ich stets wiederhole: Trotz aller Frustrationen, macht Engagement gegen sexuelle Gewalt Freude. Wie traurig wäre es dagegen, sich selbst vorwerfen zu müssen, sich nicht wirklich gekümmert zu haben.
          Und dann muss ich einfach auch immer wieder über Hintergründe lachen; manche Hintergründe zu struktureller Gewalt haben so etwas Absurdes an sich, wie auch Vergewaltigungsmythen. Oder die oft so kleinen Wichte, die sich ‚aufspielen‘ und als Täter enden, weil sie sich selbst nicht verstehen (wollen) können – wenn vor Gericht, spulen sie dieses „Ich kann mir auch nicht erklären, was da bloß in mich gefahren war.“ als Endlosplatte immer wieder ab.

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  5. AO

    Hallo Corina,

    Du schreibst:

    „Nur: wie kommen wir dahin, dass sich bspw. sexuelle Nötigung so wie Nötigung im Straßenverkehr anzeigen ließe.“

    Ich muss ehrlicherweise sagen, dass ich schon paar sexuelle Nötigungen angezeigt habe, aber noch nie Nötigungen im Straßenverkehr. Wegen unverschämten Dummheiten wie Nötigungen im Straßenverkehr laufe ich nicht zur Polizei…

    So paradox es klingt, so denke ich, dass es auch wichtig ist, Sexualstraftaten nicht mit Samthandschuhen und Berührungsängsten zu behandeln. Wenn man Sexualverbrechen nur als „ungeheuere“ Taten sieht, dann denkt man, dass es sich um extrem seltene monsteröse unbegreifliche Taten handelt. Sexualstraftaten passieren aber tagtäglich, sie sind in diesem Sinne „normale“, „häufige“ Delikte.

    Opfer brauchen Polizisten, Staatsanwälte, Richter, Ärzte, Therapeuten, Lehrer usw., die ruhig und handlungsfähig sind. Keine Leute, die die Hände überm Kopf zusammen schlagen und sagen „oh Gott, wie schrecklich, was mache ich denn nun?“ – weil diese Hilflosigkeit artet sich sehr schnell in Vorwürfe gegen Opfer aus, weil diese Leute irgendwann mal bald eher ärgerlich werden, dass sie sich mit dem unangenehmen Thema befassen müssen…

    (Und damit es ganz deutlich wird: damit will ich sexuelle Übergriffe nicht bagatellisieren, das Leid der Betroffenen in Frage stellen oder die speziellen Probleme wegen Traumastieriung negieren.)

    Ich hatte neulich ein sehr interessantes Gespräch. Da sagte mir jemand, dass seitdem ich mich als Vergewaltigungsopfer geoutet habe, die Leute sich in meinem Beisein unsicher fühlen würden, weil sie sich nicht wüßten, wie sie sich verhalten sollten. Ich sagte, dass es mir doch reicht, wenn sie sich normal verhalten würden, ich brauche und will keine Sonderbehandlung. Dieser jemand erklärte mir dann, dass für diese Leute z.B. Sexwitze normal wären, also sie sich dann extra zusammen reißen müssen, wenn ich dabei bin. Oder dass sie zum ersten Mal nachdenken, ob die Witze verletzend sein könnten. Und dass diese Leute dann unnatürlich werden und dann bisweilen auch deswegen extra viele Sexwitze machen würden, auch im Wissen, dass das mich verletzt.

    Dass sexuelle Übergrifflichkeiten für viele Leute zur Normalität gehören und dass sie sich zusammen reißen müssen, um nicht übergriffig zu werden, das hat mich nachdenklich gemacht.

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  6. Sabrina Bowitz

    „Dass sexuelle Übergrifflichkeiten für viele Leute zur Normalität gehören und dass sie sich zusammen reißen müssen, um nicht übergriffig zu werden, das hat mich nachdenklich gemacht“.
    Hallo AO, da kann ich dich in deinen Schilderungen nur bestätigen. Ich würde sagen viel davon ist auch durch die Medien geprägt, durch die Werbung insbesondere. Ich bin heute einmal wieder an einem Werbeplakat vorbei gekommen wo eine nackte Frau! einen Radiosender (einmal BOB und einmal H1 – die üblichen Verdächtigen) angepriesen hat.
    Natürlich wird dann schon Kindern, die dran vorbei fahren und allen anderen beigebracht, was Frauen sind in der Sicht der WerbemacherInnen: Objekte.
    Ja, verharmlosen lässt sich alles, aber ich wüsste da nicht wo.
    Und noch dazu ist es die Erziehung. Wenn Frauen verboten wird, wütend zu sein oder eigene Wünsche zu haben und sich gegen sexistische Witze zu wehren. Wenn wir alle mit Pornografie und mit „So solls sein so isses eben“ aufwachsen und Männer dazu erzogen werden – immer noch in vielen Fällen – nicht weinen zu dürfen und ja bloß keine „Memme“ zu sein, obwohl ja eben gerade dieses Weinen können und Sensibel sein Stärke ist.
    Ich finde nichts Witziges, Starkes oder „Normales“ an „Sexwitzen“.
    Da frag ich mich wieder: Welche „Normalität“ soll das bitte sein?

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  7. chirlu

    Die Veröffentlichung dieses Beitrags ist zwar schon länger her, ich möchte aber doch noch etwas dazu schreiben: Sehr überzeugend finde ich den Ansatz, dass sexuelle Gewalt alle angeht und dass es notwendig ist, gesellschaftliche Strukturen zu hinterfragen, die sexuelle Gewalt begünstigen. Um so mehr habe ich mich darüber gewundert, dass in dem Text ein Ausbau des “Kein Täter werden”-Netzwerkes für nützlich erachtet wird. Arbeitet dieses Netzwerk doch an der Konstruktion von sexueller Gewalt als durch eine Krankheit (“Pädophilie”) verursacht, womit gesellschaftliche Strukturen und Normalitäten ausgeblendet werden und es leicht gemacht wird, das eigene Umfeld eben nicht zu hinterfragen. Das von Klaus Beier und Kollegen konstruierte Bild bestimmt immer mehr den öffentlichen Diskurs zu sexueller Gewalt gegen Kinder und das Netzwerk “Kein Täter werden” verschlingt in wachsendem Umfang Gelder, die für andere Präventionsarbeit fehlen.
    Auch die Verwendung der Begriffs “Pädophilie” (“Liebe zu Kindern”) finde ich höchst unangebracht. Es geht schließlich um sexuelle Gewalt und nicht um “Liebe”.

    Antworten
    • Gunhild

      Liebe*r chirlu,

      Ich bin zwar nicht die Autorin des Artikels, aber danke trotzdem für dein positives Feedback und auch für den kritischen Input! Baier ist uns durch gewisse Formulierungen bereits kritisch aufgefallen. „Pädophilie“ wird meines Wissens nach von Baier als Begriff nur für die Veranlagung angewendet, ohne dass sie ausgelebt wird. Trotzdem steckt da tatsächlich etwas Beschönigendes drin, da gebe ich dir Recht, denn in dieser Veranlagung ist eine Bedrohung enthalten. Ich kenne das so, dass diejenigen, die „die Veranlagung ausleben“, also Kindern Gewalt antun, als Pädokriminelle oder Pädogewalttäter bezeichnet werden. Einerseits, weil die meisten derartigen Gewalttäter keine pädophile Neigung haben, und zum anderen, um diejenigen, die nur die Veranlagung haben, ohne einem Kind etwas zu tun, nicht mit in Sippenhaft zu nehmen. Wobei ich mich frage, wo die Grenze zum „Ausleben“ gezogen wird. Denn bereits als Kind zu spüren, dass derartige Wünsche auf einen gerichtet sind, ist bedrohlich – besonders wenn es in Abhängigkeitsverhältnissen vorkommt und/oder keine gute Unterstützung vorhanden ist – und auch bereits eine Form von Gewalt.

      Antworten
    • Gunhild

      PS: den Punkt, den du hier im Kommentar und den auch der verlinkte Artikel macht in Hinsicht darauf, dass in der Idee einer Veranlagung, die ja nur gerade so unter Kontrolle gehalten werden, die Triebtätertheorie verbirgt, finde ich sehr wichtig! Natürlich, wenn es eine Veranlagung vergleichbar Hetero-, Homo- oder Bisexualität wäre, würde doch genauso eine Entscheidung vor einer Gewaltausübung stehen wie in bei Erwachsenen. Gut dass du darauf aufmerksam machst, das ist mir seltsamerweise noch gar nicht aufgefallen, habe mich auch noch nicht intensiver mit Baier auseinandergesetzt. Unter diesem Aspekt muß ich das ganze nochmal neu beleuchten. Weißt du, ob Baier das thematisiert, dass der Hauptteil von Pädokriminellen nicht pädosexuell (mir fehlt noch ein alternatives Wort dafür) veranlagt ist?

      Antworten
      • chirlu

        Hallo Gunhild (und alle, die das sonst noch lesen),

        ich glaube nicht an die Konstruktion einer “pädophilen” Veranlagung, bei der die patriarchale Normalität der Verknüpfung von Macht- und Kontrollausübung mit Sexualität keine Rolle spielen soll.
        Klaus Beier verwendet die Bezeichnung “Pädophile” auch für Täter, die sexuelle Gewalt ausgeübt haben. Der Name des Projekts “Kein Täter werden” ist ebenfalls irreführend. Der Großteil derer, die eine Therapie dort machen, hat schon vorher sexualisierte Gewalt ausgeübt. Aufgrund der Zusicherung von Anonymität und einer (über die realen gesetzlichen Bestimmungen hinausgehenden) Schweigepflicht werden Täter auch nicht effektiv davon abgehalten, weiter sexualisierte Gewalt auszuüben – weder während noch nach der Therapie. Der angebliche Therapieerfolg wird an den Aussagen der Täter und deren Zufriedenheit gemessen und ist nicht überprüfbar. Selbst die so zustandekommenden Zahlen sind nicht gerade überzeugend und stehen in keinem Verhältnis zu dem öffentlich erweckten Eindruck großer Erfolge durch die Verbreitung von hohen Zahlen von Selbstmeldern, die “Kein Täter werden” wollen.

        PS (zum PS): Wie oben schon geschrieben glaube ich nicht an das Veranlagungs-Konstrukt. Mir erscheint das Ganze mittlerweile eher wie eine Form von Arbeitsteilung: Klaus Beier und Kollegen konstruieren eine scheinbar klar abgrenzbare Gruppe von (potentiellen) Tätern sexueller Gewalt, bei der diese nichts mit gesellschaftlichen Macht- und Gewaltstrukturen zu tun haben soll, und beschäftigt sich ausschließlich mit dieser Gruppe. In der öffentlichen Diskussion wird dieses Modell dankend aufgenommen und auf sexualisierte Gewalt gegen Kinder insgesamt übertragen, so dass am Ende keine*r mehr die Macht- und Gewaltdurchsetzten Normalitäten hinterfragen muss.

        Antworten
        • Gunhild

          Vielen Dank für diese sehr aufschlußreichen Infos! (Und sorry für die sehr späte Antwort). Das regt an, sich unbedingt gründlicher mit diesem Projekt zu befassen. Klingt nämlich bei näherer Betrachtung wirklich fragwürdig, weil Gewalt/-verhältnisse verschleiernd. Ich habe beim ersten von dir verlinkten Artikel um ein Crossposting angefragt, weil das wirklich sehr augenöffnend ist.

          Antworten
      • chirlu

        PS: Ich glaube zwar nicht an das “Pädophilie”-Diagnose-Konstrukt, will aber doch noch die abschließende Frage des PS so gut wie möglich beantworten: Klaus Beier (und Kollegen) geben Zahlen von 40% bzw. 40-50% “pädophiler” Täter an Tätern insgesamt an. Dabei wird entweder keine Quelle angegeben oder sich auf Sekundärliteratur bezogen, die bereits falsch zitiert. Diese wird dann wiederum falsch zitiert und es werden wiederholt Anteile an Tätern und Anteile an Taten verwechselt. So viel zur wissenschaftlichen Basis des Ganzen.

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