Inwiefern sich ein Bewusstsein für die Problematik in den Wahlprogrammen widerspiegelt, haben wir in den Wahlprogrammen von CDU, SPD, FDP, Grüne, Linke, Piraten, sowie im Programm der Partei Die Frauen geprüft. Außerdem haben wir vier Fragen an die Parteien geschickt, auf deren Antwort wir derzeit noch warten. Terre des Femmes (TdF) hat ebenfalls Fragen für diesen Bereich als Wahlprüfsteine an die erstgenannten sechs Parteien geschickt. Hier bestand für die Parteien natürlich die Möglichkeit, ihre Antworten unabhängig vom eigenen Wahlprogramm auf die Fragestellerin zuzuschneiden.
Die CDU macht die Analyse recht einfach, da sexuelle Gewalt für sie kein Thema ist. Es steht jedenfalls nichts dazu im Programm. Immerhin einen Satz widmet Dorothee Bär dem Thema in ihrer Stellungnahme für TdF: „Ich sehe Reformbedarf beim Sexualstrafrecht.“ Recht hat sie. Ob das außer ihr aber noch jemand in CDU/CSU so sieht, bleibt ungewiss, allzumal ja in nunmehr acht Regierungsjahren seitens ihrer Parteifreund*innen kein dringlicher Reformbedarf merkbar wurde.
Bei der FDP ist im Vergleich dazu schon ein erster kleiner Fortschritt zu erkennen: „In Strafverfahren muss ein schonender Umgang mit Gewaltopfern selbstverständlich werden“, ist im Abschnitt ‚Modernes Leben’ zu lesen. Konkreter wird es aber nicht. Explizit erwähnt wird sexuelle Gewalt überhaupt nur im Zusammenhang mit Jugendlichen und Kindern (Abschnitt ‚Gesundheit’), erwachsene Betroffene, allzumal Frauen, fallen aus der Wahrnehmung der FDP scheinbar raus. Auch Nicole Bracht-Bendt, Sprecherin für Frauen und Senioren (FDP) geht in ihrer Antwort an TdF mit keinem Ton auf sexuelle Gewalt ein.
Betroffene von Gewalttaten werden im Programm der Piraten samt und sonders ausgeblendet, sexuelle Gewalt ist also auch hier kein Thema. Das im generischen Maskulinum gehaltene Programm wechselt nur in einem kurzen Abschnitt zur geschlechtergerechten Sprache, und zwar da, wo von Straftäter*innen die Rede ist. Hier heißt es, dass die Verhinderung von Straftaten und nicht ihre Bestrafung das Handlungsziel ist. Präventionsprogramme werden jedoch nicht mal erwähnt, geschweige denn, dass die Perspektive von denjenigen, die unter Gewaltstraftaten leiden, irgendwo mitgedacht würde. Immerhin setzen sich die Piraten gegen Diskriminierung ein. Und zwar gegen die Diskriminierung von Männern in § 183 StGB, der nur „exhibitionistische Handlungen von Männern, nicht aber von Frauen und „transsexuellen Eichhörnchen“ unter Strafe stellt“. Überraschend also, dass sich die Piraten (anonym) in ihrer TdF-Stellungnahme der Forderung von TdF ausdrücklich anschließen, die Europarats-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zu ratifizieren, und so eine Reform des §177 (sexuelle Nötigung, Vergewaltigung) zu erwirken.
Das klingt ja gut! „Jeder Form des Sexismus und allen Formen von frauenverachtendem Verhalten und Gewalt gegen Frauen sagen wir den Kampf an.“Yay. Das war’s dann aber auch schon bei der SPD. Zum Themenkomplex sexuelle Gewalt: niente, jedenfalls, was Erwachsene betrifft. Immerhin gibt es im Abschnitt ‚Jugendpolitik’ zwei schmale Absätze, in denen die Prävention von sexualisierter Gewalt bei Jugendlichen für notwendig erkannt und deren Förderung verstärkt werden soll. In ihrer Antwort an TdF wiederholt die SPD (anonym) ihren schönen, hier zitierten Satz und kündigt die Entwicklung eines Aktionsplans zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen an. Wieso wurde der eigentlich nicht vor einem von der SPD doch sicher erhofften Wahlerfolg entwickelt? Die Europarats-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen „muss umgesetzt werden“, steht außerdem in der Antwort an TdF.
Ein vergleichsweise entwickeltes Bewusstsein für sexuelle Gewalt und die damit verbundenen gesellschaftlichen Problematiken ist aus dem Wahlprogramm der Grünen herauszulesen. Anonyme Spurensicherung in allen deutschen Krankenhäusern und die deutschlandweite Betreuung von Betroffenen durch geschulte Polizei- und JustizbeamtInnen wird hier als Handlungsziel angekündigt. Sogar Vergewaltigungsmythen sind den Grünen ein Begriff. Jedoch kündigen sie diesbezüglich außerhalb der institutionellen Maßnahmen keine Aufklärungskampagnen an, obwohl ihnen die hohe Dunkelziffer bekannt ist. Die Strafgesetzgebung möchten sie „überprüfen“. Überprüfen ist nicht ändern, und lässt in Hinblick auf die Europarats-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen alles offen. Eine klare Ansage ist das also nicht. Auf der TdF-Seite war zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes noch keine Stellungnahme der Grünen vorhanden. Dabei müssten ja gerade die Grünen an einer klaren Positionierung interessiert sein, wo sie doch derzeit angesichts Pädosexualität in Kritik geraten sind.
Recht allgemein formuliert Die Linke ihre Forderungen. Immerhin haben sie, ähnlich wie die Grünen, einen Abschnitt, der allein dem Thema „Wirksamer Schutz vor Gewalt gegen Frauen“ gewidmet ist. Sexuelle Gewalt wird jedoch außer für Krisen- und Kriegsgebiete nicht explizit erwähnt, und so muss die Einstellung der Linken dazu aus den Aussagen zu Gewalt gegen Frauen generell gelesen werden. Sie fordern die öffentliche Verurteilung aller Formen von Gewalt gegen Frauen. Nun, um diese Forderung umzusetzen, bedarf es nicht zwangsläufig eines Bundestagsmandates. Wer derartige Verlautbarungen der Linken auf Bundesebene bereits vernommen hat, kann sie gerne in die Kommentare posten. Über die Ursachen von Gewalt gegen Frauen wollen sie aufklären und Gewaltverherrlichungen gegen Frauen in den Medien „konsequent bekämpfen“. Wie, wird nicht erwähnt.
In ihrer Stellungnahme an TdF (anonym) unterstützen sie die Forderung von TdF nach Ratifizierung der Europarats-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, respektive die Veränderung von §177. Als einzige Partei erwähnen sie das Opferentschädigungsgesetz (OEG) und fordern eine Verbesserung: jedoch lediglich in Hinsicht auf die Erweiterung auf Betroffene von Stalking und von häuslicher Gewalt. Dass die bürokratischen Hürden für viele Betroffene zur Erlangung von Opferentschädigung viel zu hoch sind, bleibt unerwähnt.
Die Partei die Frauen hat kein aktuelles Wahlprogramm, sondern nur ein allgemeines Programm. Die Aussichten auf Wahlerfolg sind eher gering, wobei „Wahlerfolg“ hier bereits bedeuten würde, überhaupt über die 5%-Hürde (oder in ihre Nähe) zu kommen. Im Gegensatz zu den eher überschaubaren oder gar nicht vorhandenen Einlassungen zu sexueller Gewalt seitens der bisher abgehandelten Parteien, gehen Die Frauen ausführlich, detailliert und teils sehr einsichtsvoll auf den Themenkomplex ein. So erwähnen sie kritisch ein Männerbild, das sich über Dominanz definiert, und fordern entsprechende Jungenarbeit. Ganz zusammenhängend ist das Programm nicht immer, da zum Teil widersprüchliche Forderungen unkommentiert im Text stehen; so die Kritik an Strafjustiz bei gleichzeitiger Forderung der Erhöhung von Haftstrafen bei Sexualstraftaten. Die Europarats-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen findet keine Erwähnung, obwohl ihre Ratifizierung und folgende Umsetzung in nationales Recht ein wichtiger Schritt ist. Möglicherweise ist das Programm der Partei Die Frauen nicht daraufhin aktualisiert worden.
Fazit
Wie zu sehen bietet sich ein durchmischtes Bild, Verbesserungspotential ist deutlich bei fast allen Parteien zu erkennen. Unsere Anfragen bei den Parteien dienen auch dazu, als Interessengruppe zu forcieren, dass das Thema „sexuelle Gewalt“ endlich ernst genommen und verstärkt auf die Agenda gesetzt wird. Welche Partei uns geantwortet hat, und wie die Antwort lautet, könnt ihr auf der eigens dafür eingerichteten Seite lesen: Wahlcheck – die Antworten der Parteien.
Eine weitere Möglichkeit hier nachzuhelfen besteht für Einzelpersonen, indem die Abgeordneten der Wahlkreise dazu befragt werden. Das geht auf abgeordnetenwatch.de; und wer mitmachen möchte, klickt einfach hier.
[…] zu unserer Analyse der Wahlprogramme stellen wir den Parteien Fragen zum Themenbereich Schutz vor sexueller Gewalt/Hilfe für […]