Inhaltswarnung: Sexuelle Gewalt
Am 20.03.2013 fand der Berufungsprozess einer nun 19-Jährigen am Landgericht Kassel statt. Sie wirft dem 53-jährigen Angeklagten Stefan K. vor, sie im Alter von 9 – 12 Jahren mehrfach wöchentlich vergewaltigt zu haben. Zu jener Zeit war der Mann der Freund der Mutter.
Der Fall war erstmals am 13.11.2012 am Amtsgericht in Fritzlar verhandelt worden. Richterin Sprafke urteilte aufgrund zu vieler Widersprüche der 19-Jährigen mit Freispruch. Die junge Frau hatte aus der Vielzahl der Vorfälle, die sich in ihrer Kindheit ereigneten, fünf Beispiele korrekt datiert auswählen, detailliert und widerspruchsfrei schildern sollen. Dies gelang ihr fünf Jahre später nicht mehr.
Gegen das Urteil legte die Nebenklägerin Berufung ein. Die Initiative wurde durch die verletzte Zeugin anhand von zahlreichen Berichten über das vorangegangene Verfahren informiert und gebeten über den Fall zu berichten.
Verhör zu kinderpornografischen Bildbesitz
Zu Beginn des Berufungsverfahrens befragte der vorsitzende Richter und Präsident des Landgerichts Dr. Löffler den Angeklagten zur damaligen Wohn- und Beziehungssituation. Dieser entgegnete, er habe bis auf ein oder zwei Ausnahmen nie unterhalb der Woche bei der Familie übernachtet. Des abends sei er fast nur mit Renovierungsarbeiten über die Jahre hin beschäftigt und „eigentlich nie mit den Kindern allein“ gewesen.
Seine Aussage „Ich habe kein Interesse an Kindern – in keinem Fall“ konfrontierten die Staatsanwältin und die Nebenklagevertreterin Rechtsanwältin Gudrun Meyer mit kinderpornografischen Bildern, die auf seinem Computer sichergestellt worden waren. Er entgegnete, diese Bilder hätten sich von selbst ohne sein Zutun beim Besuch von herkömmlichen Pornoseiten installiert. Anhand der einschlägig auf „Teen“ verweisenden Webseitenadresse und der zahlreichen, unterschiedlichen Downloadzeiten und -daten bezeichnete die Rechtsanwältin dies als „reine Schutzbehauptungen“. Der vorsitzende Richter kommentierte: „Ich glaub’s net!“. Weiterhin war das Gericht nicht von seiner Aussage überzeugt, die Bilder seien bereits auf dem gebraucht erworbenen Computer beim Kauf vorhanden gewesen. Hier widersprach der Angeklagte sich selbst als er nach dem Erwerbsdatum des Rechners gefragt wurde. Dieses datierte er auf das Frühjahr 2010, einige Kinderporno-Bilder waren erst im Juli desselben Jahres herunter geladen worden.
Kein Motiv für die Nebenklägerin
Sowohl die Staatsanwältin als auch sein eigener Anwalt fragten den Beschuldigten, wie er sich das Motiv der Nebenklägerin für die Anklage erkläre. Stefan K. äußerte die Vermutung, dass sie sich dafür rächen wolle, dass er durch seine Beziehung mit ihrer Mutter die vorherige Familie auseinandergebracht habe. Rechtsanwältin Meyer wies ihn darauf hin, dass die Anzeige gar nicht von der Nebenklägerin selbst stammte. Ihr Ex-Freund hatte zusammen mit einem Freund Stefan K. verprügelt, nachdem sie ihm von ihren Erlebnissen erzählt hatte. Bei der Festnahme hatte er der Polizei dies als Grund genannt, woraufhin diese ermitteln musste, da Vergewaltigung ein Offizialdelikt ist. Erstmals habe die Nebenklägerin außerdem bereits 2006 einer nahen Freundin von den Vergewaltigungen erzählt, führte die Staatsanwältin aus. So lange nach den Taten bestünde damit kein nachvollziehbares Motiv.
Nebenklägerin zog Berufung zurück
Nach einer viertelstündigen Pause nahm die Rechtsanwältin der Nebenklage in Anwesenheit ihrer Mandantin die Berufung zurück. Die Aussicht, den Beschuldigten gemäß der erforderlichen rechtlichen Grundlagen zu verurteilen, sei zu gering. Die Anwältin betonte, dass dies nur aufgrund der geäußerten Widersprüche ihrer Mandantin geschehe – und nicht, weil deren Vorwürfe unwahr seien. Weiterhin führte Rechtsanwältin Meyer aus, dass Aussagen der Schwester der Nebenklägerin dem Beschuldigten widersprächen. So habe er, anders als behauptet, sehr wohl häufiger als 1 bis 2 Mal unterhalb der Woche bei der Familie genächtigt. Außerdem seien die Schilderungen der Schwester, wie der Beschuldigte sich ihr gegenüber genähert habe, zwar nicht eindeutig missbräuchlich jedoch für sie als Mutter so grenzüberschreitend, dass sie dagegen vorgegangen wäre.
Der vorsitzende Richter Dr. Löffler bestätigte, dass das Verfahren zu keiner Verurteilung geführt hätte und ein Unbehagen verbliebe. Er vertrete einen Rechtsstaat, in dem ließe er „lieber 10 Schuldige laufen, als nur einen Unschuldigen zu verurteilen“. Und diese Zahl ließe sich noch beliebig ausweiten. Dann erklärte er den Freispruch für rechtsgültig und erlegte der Nebenklage die Kosten des Verfahrens auf.
Kommentar
Diese Bestätigung eines Freispruchs war aufgrund der erschreckenden Indizien eine schwere Enttäuschung. Für die verletzte Zeugin, die nach dem Ende der Verhandlung in Tränen ausbrach, aber auch für alle, die mit ihr auf Gerechtigkeit gehofft hatten.
Die Ungereimtheiten des ersten Prozesses, die allesamt dem Angeklagten zugute kamen, spielten offenbar in der Berufung eine geringere Rolle als die auf Grund der zu weit zurückliegenden Tatzeit widersprüchlichen Tatbeschreibungen der Nebenklägerin. Auch der Angeklagte hatte sich in Widersprüche verwickelt, was ihm aber weniger stark zulasten gelegt wurde als der verletzten Zeugin. Hier stellt sich die Frage, welchen Sinn eine Berufung hat, wenn derartige Einseitigkeiten des vorherigen Prozesses nicht neu aufgerollt werden können.
Das von Richter Löffler und Rechtsanwältin Meyer deutlich geäußerte Unbehagen am Freispruch war bei Vielen im Saal spürbar. Vermutlich auch angesichts dessen, dass der Beschuldigte freimütig angab, dass es in seinen Beziehungen häufig Kinder gäbe, und „auf Wunsch“ massiere er sie auch.
Besserer Schutz nötig
Künftig müssten Betroffene vor Fehlern, wie sie sich im vorangegangenen Verfahren ereigneten, besser geschützt werden. Eine mit Verfahrensbeginn erfolgende Beratung der verletzen Zeugin wäre sehr wichtig, um sie über ihre Möglichkeiten und Rechte aufzuklären.
Diese sollte beispielsweise klarstellen, dass vom Gericht beauftragte GutachterInnen (der Gutachter wurde hier übrigens von der Verteidigung vorgeschlagen) von der verletzten Zeugin nicht zwingend akzeptiert werden müssen. Denn die Zeugin, wie vermutlich viele andere, hätte sich beim Gutachten lieber einer Frau anvertraut, aber dieser Wunsch wurde ihr abgeschlagen.
Der vom Gericht ausgewählte Gutachter Dr. Stolpmann erwies sich dann auch aus anderen Gründen als für die verletzte Zeugin benachteiligend. Einerseits hatte Dr. Stolpmann keine nachgewiesene Ausbildung auf dem Gebiet der Traumatologie, die Erinnerungslücken und -verschiebungen der Betroffenen als üblich und keineswegs als Beleg für Unglaubwürdigkeit erkennt. Zum anderen verließ er den ersten Prozess vorzeitig aus Termingründen, was das Gericht zum Anlass für ein eiliges Verfahren nahm: sämtliche ZeugInnen zugunsten der Nebenklage wurden deshalb genau einen Tag vorher wieder ausgeladen. Darunter befand sich die Großmutter der Nebenklägerin sowie der Kriminalbeamte, der die ersten Vernehmungen durchgeführt hatte. So wurden effektiv wichtige ZeugInnen aus der Beweisaufnahme ausgeklammert.
Des weiteren wäre eine für Sexualdelikten qualifizierte Anwältin wichtig für die Nebenklägerin gewesen; ein Hinweis hierauf und entsprechende Adressen hätten den Verlauf des ersten Prozesses entscheidend positiv beeinflussen können. Denn die für den ersten Prozess ausgewählte Anwältin sabotierte faktisch sämtliche Chancen, die trotz der ungünstigen Ausgangslage noch bestanden hätten. So versäumte bzw. verweigerte sie die Beantragung eines Gegengutachtens und versuchte der jüngeren Schwester auszureden, dass sie etwas von den Taten mitbekommen habe. Letzteres ist mehr als verwunderlich, da die Angaben der Schwester wichtige Zeuginnenaussagen hätten sein können.
Unzureichende erste Anwältin
Das Verhalten der Rechtsanwältin korrespondierte in negativer Weise perfekt mit beinahe sämtlichen Etappen des Verfahrens: denn dass die Staatsanwaltschaft ein Verbrechen wie Kindesvergewaltigung an ein Amtsgericht verweist, wie im ersten Prozess geschehen, zeigt, wie wenig ernst die angeklagten Taten bereits von vornherein genommen wurden. Amtsgerichte verhandeln üblicherweise nur Strafsachen mit geringem Streitwert. Überdies sind die Chancen, dass die dortigen Prozessbeteiligten sich mit den Besonderheiten von Sexualdelikten auskennen, geringer als an Landgerichten, an denen diese öfter verhandelt werden.
Die verletzte Zeugin hatte unter diesen Umständen von vornherein keine Chancen. Von Seiten des Gerichts bestand im ersten Prozess offensichtlich kein Interesse, einen wegen schwerer sexueller Kindesmisshandlung Angeklagten zu überführen. Schließlich wurden seine Begründungen für die kinderpornografischen Fotos unhinterfragt in der Urteilsbegründung übernommen. Demgegenüber spielten die Vernarbungen in der Vagina der verletzten Zeugin, die bereits im Alter von 12 bei ihr festgestellt worden sind, keine Rolle. Auch wurden wichtige ZeugInnen, die ihre Aussagen unterstützt hätten, unter fadenscheinigen Gründen nicht angehört.
Die informierte Presse wollte bei der Berufungsverhandlung leider nicht über das generelle Problem der seltenen Verurteilungen von sexueller Gewalt berichten und unterhielt sich stattdessen in der Verhandlungspause und nach dem Prozess auffällig häufig mit dem Angeklagten und seinen zwei Begleitern.
Rat und Fazit
Unter den derzeitigen Zuständen ist Betroffenen dringend anzuraten, sich vor einem Prozess gründlich beraten zu lassen – z.B. von einem Frauennotruf – und eine/n fachkundige Anwältin/Anwalt zu suchen. Denn nur so können sie ihre Rechte überhaupt wahrnehmen, andernfalls fallen diese unter den Tisch. Doch sollten derartige Beratungen sowie die Zuständigkeit von in Sexualdelikten versierten Prozessbeteiligten zukünftig obligatorischer Teil jedes Verfahrens sein.
Dieser Fall zeigt erschreckend deutlich, wie wenig Interesse die Justiz zuweilen daran hat, schwere Gewalttaten aus dem Bereich Sexualdelikte aufzuklären. Alles zusammen genommen, hätte der Ablauf nicht täterfreundlicher sein können.